Tägliche Gedanken von Pfr. Gerhard Metzger in einer schwierigen Zeit (der Artikel stand als Andacht in der Hersbrucker Zeitung am 14.11.2020)
Leben zwischen Bestimmtheit und Gelassenheit
Es war im Mai dieses Jahres. Erst kurz vorher waren wieder Beerdigungsgottesdienste in der Kirche erlaubt. In Absprache mit den Angehörigen und nach den damaligen Hygienevorschriften wurde solch ein Gottesdienst in der Thomaskirche angesetzt. Ich stand vorher mit dem Stift in der Hand vor einem Bistrotisch. Ich musste und wollte die einzelnen Teilnehmer/-innen aufschreiben. Ich habe darauf hingewiesen, dass ein Nasen-Mund-Schutz getragen werden muss und dass die Hände desinfiziert werden müssen.
Ein Gottesdienstbesucher geht in die Kirche ohne sich an diese Vorschriften zu halten. Ich habe ihn angesprochen und ihn freundlich gebeten, bitte den Schutz anzuziehen. Nur so ist wieder ein Beerdigungsgottesdienst möglich. Er weigert sich zuerst. Es kommt zu einem heftigen Gedankenaustausch. Schließlich zieht er solch einen Schutz an und geht in die Kirche. Ich rufe ihn nach mit der Bitte, er soll noch einmal kommen und die Hände desinfizieren. Er kommt zurück und es gibt wieder einen Wortwechsel. Schließlich gibt er nach. Ich bin innerlich sehr aufgewühlt. Am Verhalten meines Gesprächspartners merke ich, dass er alles dabei hatte, aber vielleicht der Meinung war: „Der Pfarrer wird das wohl nicht so ernst nehmen“. Vielleicht wollte er mich auch nur testen nach dem Motto: „Mal schauen, ob der Pfarrer sich an die Vorschriften hält“. Das wäre der Versuch gewesen, ob ich authentisch bin.
Bis heute verfolgt mich diese Szene. Wenn Gottesdienstteilnehmer zu nahe sitzen oder bei Treffen außen mit anderen im Haufen stehen, dann schreite ich ein. Ich merke, dass ich kämpfen muss um eine ruhige, aber bestimmte Tonlage. Es ist mir nicht immer gelungen. Die Äußerungen der anderen zeigen mir das. Diese Erfahrung im Mai hat für mich offenbar etwas Traumatisches. Für mich heißt das, mich zu entschuldigen, wenn sich jemand zu scharf angegriffen fühlt. Es war nicht so gemeint! Ich merke: Dieser Balanceakt von Bestimmtheit und Gelassenheit fällt mir schwer.
Ich denke an ein biblisches Wort aus dem Neuen Testament, das im griechischen Urtext „Parakalein“ heißt. Auf Deutsch kann es mit „herbeirufen“ übersetzt werden. „Komm mal bitte her zu mir“. Das kann eine vertrauensvolle Bitte sein und/oder ein Wort des Trostes vorbereiten. Das kann aber auch ein Herbeiholen für eine Ermahnung sein. Ich finde das spannend. Das Wort zeigt beide Seiten auf. Vor allem der Apostel Paulus benutzt es. Es wird manchmal mit „trösten“ übersetzt und manchmal mit „ermahnen“. Viele wählen „auferbauen“ als deutsche Übersetzung. Vielleicht trifft es am besten, was ich meine, wenn ich Leute mitten in dieser Coronazeit anspreche. Ich möchte Menschen helfen, dass Sie sich nicht anstecken. Ich will aber auch niemanden vergraulen. Mal schauen, ob es mir gelingt, in Zukunft näher in Richtung „Gelassenheit“ zu kommen, wenn ich wieder Menschen „herbeirufen“ und „ansprechen“ muss. Aber sie können mir auch in Zukunft gerne sagen, wenn ich den falschen Ton getroffen habe.